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Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk (Kategorie 6)

Jacques Tardi
aktuell: Die Macht des Volkes
Edition Moderne

Jacques Tardi - Früchte des Zorns
Jacques Tardi hat sich selbst vergraben – wie die Poilus seiner Comics über den Grabenkrieg zwischen 1914 und 1918, die sich gegen die Grausamkeit ihrer Umgebung immer wieder Refugien im Gemetzel schaffen, wo sie versuchen, dem Morden zu entkommen und ihre private Utopie zu verwirklichen.

Haus und Hof
So lebt auch Tardi - in einem langgestreckten Ateliergebäude, das aus einer alten Eisenwarenfabrik des späten neunzehnten Jahrhunderts umgebaut worden ist. Von außen weist nichts auf den prominenten Bewohner hin. Ein gewaltiges Stahltor macht fast die Hälfte der niedrigen Fassade aus, durch eine Tür im Tod tritt man auf einen kleinen überdachten Hof, der noch das alte Kopfsteinpflaster aufweist. Über dem eigentlichen Atelier steht der alte Schornstein, drinnen sind die Sheddächer, durch die Oberlicht in das schlauchförmige Gebäude fällt, aufs Perfekteste restauriert worden. Hierhin dringt kein Blick von außen, und das ganze Innere ist auf Tardi und seine Frau, eine Musikerin, zugeschnitten. Im ersten Raum nach dem Hof hat Madame Tardi um einen Flügel herum ein Sammelsurium an Kuriositäten aufgehäuft; im Gang, der dann zum Ateliertrakt ihres Mannes führt, hängen einige von dessen Banlieu-Bildern und Filmplakate von Robert Altman und Federico Fellini, die Tardi für einen französischen Verleih gestaltet hat. Es gibt eine Magritte-Paraphrase à la Tardi und einige der großformatigen Kohlezeichnungen, die er noch nie ausgestellt oder auch nur zum Abdruck freigegeben hat. Und im Atelier selbst stehen über Dutzende von Metern Regale an den Wänden, die vor allem Bildbände enthalten – als Recherchequellen. In einem Pappkarton ganz unten sammelt Tardi die Besprechungen seiner Werke, gezeichnet werden sie auf einem großen Schreibtisch, auf den direkt das Licht aus dem hier durchbrochenen zweiten Geschoss fällt. Auf der Arbeitsfläche liegen einige Seiten aus dem Album „Le Petit bleu de la côte ouest“. Es ist früher Februar 2005, und der Band, der dann im Herbst erscheinen sollte, steckt gerade fest, weil Tardi seit drei Tagen nach der richtigen Vorlage für eine Autobahntankstelle sucht. Es ist kein Zufall, dass er hier wohnt, in einer kleinen Straße des XIX. Arrondissements, in Fußentfernung zum Friedhof Père Lachaise. Dort sind die Toten der Kommune von 1871 begraben worden, die Opfer der Straßenschlachten und die Hingerichteten nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands, die an einer der Mauern des Friedhofs standrechtlich erschossen wurden. Sie sind Tardis Helden, und man spürt seinen Stolz, ihnen so nahe zu sein. Vor mehr als hundertdreißig Jahren schien die Welt für ein paar Wochen den richtigen Kurs einzuschlagen – wenn auch nur im von Preußen belagerten Paris, in dem je nach Interpretation ein Bürgerkrieg oder eine Revolution tobte. Danach wurde zwar die Republik wieder installiert, doch es entwickelte sich jene Form der repräsentativen Demokratie, die Tardi ihrer Vetternwirtschaft wegen verabscheut: „Mein Ideal wäre, wenn die Leute ihr Schicksal in die eigene Hand nähmen”, sagte er im Frühjahr 2006 in einem Interview. „Man mag mich einen Romantiker schimpfen, aber genau das war das Ziel der Kommune. Menschen aus dem Volk und nicht Politiker versuchten damals, die Sache zu regeln.” Tardi hat zweimal in seinem Leben gewählt, und das ist Jahrzehnte her.

Der Zorn des Zeichners
Der Zorn des Zeichners ist schon im Februar 2005 allgegenwärtig. Ob es sich um die Politik von Präsident Chirac und Ministerpräsident de Villepin handelt oder um so etwas Profanes wie die Bezeichnung „Album” für einen Comicband – Jacques Tardi kennt keine Sentimentalitäten. Die Trauer des überzeugten Linken gilt immer noch der untergegangenen Kommune von 1871, jenem gescheiterten politischen Experiment, das er nach einem Szenario des Historikers Jean Vautrin mit dem vierbändigen Zyklus „Le Cri du peuple“ (dt. als „Die Macht des Volkes“ bei Edition Moderne) gefeiert hat. Vier Jahre seines Lebens opferte Tardi dafür, die Jahre 2001 bis 2004, und kommerziell hat es sich gelohnt, denn es wurde zum bestverkauften Projekt seiner mittlerweile mehr als dreißigjährigen Karriere: Mehr als eine halbe Million beträgt bisher die Gesamtauflage. Doch wichtiger als das ist die Hommage, in die Tardi alles gesteckt hat, zu dem er künstlerisch fähig war. Und dann kommen hergelaufene Journalisten oder Rezensenten und nennen diese vier Bände „Alben”. „In einem Album”, schimpft der Zeichner, „sammelt man etwas. Ich aber gestalte Bücher.” Und wo die Emotionen gerade schon einmal hochkochen, wird dem deutschen Besucher auch gleich noch der Abscheu Tardis gegen die französische Gewohnheit, Comics als „BD” (als Abkürzung von „bandes dessinées”) zu bezeichnen, nahegebracht: „Diese Abkürzung ist furchtbar, denn was wir machen, ist eine vollwertige Tätigkeit, auch wenn Comics für mich kein Beruf, sondern eine Leidenschaft sind.” Umso weniger erfreue ihn der flapsige Jargon, der von nichts anderem künde als von Herablassung und Arroganz.

Lebenswerk
Beim diesjährigen Internationalen Comic-Salon in Erlangen wird Jacques Tardi sich über mangelnden Respekt für sein Schaffen nicht beklagen zu können. Die Jury des Max und Moritz-Preises, darunter auch der Verfasser dieses Artikels, sprachen ihm einstimmig den Preis für ein Lebenswerk zu. Die einzige Debatte, die diese Entscheidung im Kreis der Juroren überhaupt erforderte, war eine, die sich schon in den Jahren zuvor immer wiederholt hatte: Ist es klug, einem Künstler, der noch derart produktiv ist wie Tardi, einen Preis zu verleihen, der sich doch als Ehrung eines abgeschlossenen OEuvres versteht? Immerhin ist Tardi noch keine sechzig Jahre alt, und hat sowohl an Produktivität wie an Qualität in letzter Zeit eher noch zugelegt. Er ist ein Zeichner, auf den sich alle Kollegen verständigen können: als moralische wie ästhetische Instanz. Wer auch immer in Frankreich nach seiner Meinung zum literarischen Comic befragt wird, der kommt unweigerlich auf Tardi zu sprechen. Sein Ansehen nimmt eine Entwicklung wie Hergé oder Franquin: Er ist eine Legende zu Lebzeiten, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen und haben jeweils gelesen, was er neu hervorgebracht hat. Doch selbst wenn noch weitere dreißig Jahre lang zuverlässig jedes Jahr ein neues Meisterwerk das Pariser Atelier verlassen sollte, so hat Tardi schon heute ein Werk beisammen, das ohne Beispiel ist. Also war es höchste Zeit, ihm die bedeutendste deutsche Comicauszeichnung zu verleihen. Zumal ein seltener Glücksfall dafür gesorgt hat, dass seine bisherigen Arbeiten fast vollständig auf Deutsch erschienen sind – von den großen Arbeiten fehlt nur noch „Le Trou d’obus“; die noch nicht erschienenen neuesten Arbeiten „Le Petit bleu de la côte ouest“ und „L’Etrangleur“ werden nicht lange auf sich warten lassen. Denn seit Mitte der achtziger Jahre hat die Zürcher Edition Moderne in seltener Treue zu Tardi Band für Band übersetzen lassen, obwohl nur die Krimireihe „Nestor Burma“ hohe Verkaufszahlen erreicht hat. Vorher war Tardis älteste Serie „Adele Blanc-Sec“ bei Carlsen erschienen, und der Volksverlag hatte sein Frühwerk „Polonius“ herausgegeben, das wegen zu großer sexueller Freizügigkeit nur an Erwachsene verkauft werden durfte. Doch nur David Basler von der Edition Moderne hatte den langen Atem, der bei einem Exzentriker wie Tardi notwendig ist, um auch die gelegentlichen Durststrecken zu überstehen. Es heißt schließlich, sich auf einen Zeichner einzulassen, der wie keiner seiner Kollegen die französische Geschichte zu seinem Thema gewählt hat. Die ist für die Nachbarn diesseits des Rheins nicht immer leicht verständlich und also auch nicht leicht verkäuflich. Und es heißt, einem Künstler die Treue zu halten, der als geradezu unnahbar galt und selbst in Frankreich kaum einmal für irgendwelche Werbemaßnahmen wie Interviews oder gar Signierstunden zu gewinnen war.

Blinde Kritik
Das immerhin hat sich im letzten Jahr gebessert, auch wenn der Besuch im Februar 2005 allein durch die Person Tardis vor Augen führte, wie zurückgezogen der Zeichner gelebt hatte. Die letzten bekannten Bilder hatten einen leicht rundlichen Dunkelhaarigen mit üppigem Bart gezeigt; nun sitzt da ein soignierter Weißhaariger mit exakt gestutztem Vollbart gegenüber, der seine Gesprächspartner scharf über die Brillenränder hinweg fixiert. Erst der Erfolg von „Le Cri du peuple“, der damals noch ganz frisch war, hat Tardi das Trauma eines anderen gewaltigen Erfolgs zu bewältigen geholfen: Der als Einzelband in Frankreich eine Viertelmillion Mal verkaufte „La Débauche“ (dt. „Abwärts“) hatte 2000 allein wegen des Szenaristen Daniel Pennac bei der Kritik Beachtung gefunden. Noch fünf Jahre später, ja selbst in einem der jüngsten Interviews vom März 2006, erinnert sich der Zeichner grollend an einen französischen Journalisten, der Pennac und ihn zu einem gemeinsamen Gespräch geladen hatte und bis zum Eintreffen des berühmten Schriftstellers keine einzige der Antworten, die Tardi auf die bisherigen Fragen gegeben hatte, notiert hatte. Kaum aber war Pennac dazugestoßen, wurde jedes Wort festgehalten. „Ich war nichts weiter als der Zeichner, der das Werk des Autors umgesetzt hatte. Es interessierte nicht, dass wir die Geschichte zusammen geschrieben hatten.” Und es interessierte auch nur wenige Interpreten, dass Tardi mit „La Débauche“ etwas völlig Neues unternommen hatte: Er siedelte das Geschehen in der Gegenwart an, vergrub sich also nicht noch einmal in seine akribischen Recherchen zum Aussehen von Paris vor etlichen Jahrzehnten, sondern porträtierte seine Stadt, wie er sie tagtäglich vor Augen hatte. Und für ein paar Gemälde des dubiosen Malers Helas, der die rätselhaften Ereignisse im Pariser Zoo zu verantworten hat, die „La Débauche“ den Rahmen geben, griff Kollege Jacques de Loustal höchstpersönlich zur Palette, um einem Verbrecher in Tardis Geschichte seine unnachahmliche Farb- und Formgebung zu verleihen. Doch die blinde Kritik feierte Pennac. Dann aber kam „Le Cri du peuple“, und auch wenn Jean Vautrin ein durchaus erfolgreicher Sachbuchautor war, so war doch hier Tardi der bekanntere der beiden Verfasser. Zumal es seine Entscheidung war, die ursprünglich nur auf drei Bände angelegte Erzählung um das Scheitern der Kommune noch um einen vierten Teil zu erweitern. Es war ein Herzensprojekt des Zeichners: „Die Bedeutung der Kommune liegt darin, dass sie die erste Arbeiterrevolution war und von der Hoffnung auf den Internationalismus getrieben war. Es sollte Schluss sein mit den Kriegen.” Tardi spricht mit Pathos, wenn er seinen Antrieb für die vierjährige Beschäftigung mit den damaligen Ereignissen erläutert. Als Chronist des Ersten Weltkriegs weiß er nur zu gut, dass die Arbeiterbewegung nie mehr diese grenzüberschreitende Solidarität über die nationalen Interessen stellen sollte.

Neue Krimiadaptionen
Die Bitterkeit, mit der der Zeichner die späteren Zeitläufte porträtierte, ist auch in seinen jüngsten Arbeiten zu finden, auf die wir hierzulande noch warten. Doch zugleich ist es ein neuer Tardi, der aus den immer noch seltenen, aber immerhin nun regelmäßigeren Begegnungen spricht, die aus den letzten anderthalb Jahren dokumentiert sind. Der Besuch vom Februar 2005 war ein Glücksfall, weil Tardi drei Stunden erzählte wie ein Wasserfall: über seine Mitarbeit an „A Suivre“, dem Avantgarde-Comicmagazin, über seine Recherchemethoden, über die Liebe zu Filmen und Kriminalliteratur. Mit dem Erfolg von „Le Cri du peuple“ hatte er gerade endgültig den Durchbruch beim ganz großen Publikum geschafft. Und da auch das Nachfolgeprojekt, die Adaption von „Le Petit bleu de la côte ouest“, einem Lieblingskrimi Tardis, den Jean-Patrick Manchette 1975 publiziert hat, gut ankam, hat der Zeichner in den vergangenen Monaten erstmals seit Jahrzehnten wieder mehrere Magazine zu Gesprächen empfangen, um sein gerade aktuelles Projekt, wieder eine Krimiadaption, aber diesmal von Pierre Siniacs „Monsieur Cauchemar“, vorzustellen. Nie konnte man soviel über Tardi in Erfahrung bringen wie in den letzten anderthalb Jahren. Die jüngste, derzeit in Frankreich noch laufende Publikation ist gewiss die ungewöhnlichste in Tardis Karriere – nicht als Erzählung selbst, sondern der von ihm gewählten Form wegen. Eigens zum Abdruck der insgesamt siebzigseitigen Geschichte gründete Tardi im März 2006 eine eigene Monatszeitung: „L’Etrangleur“ (dt. „Der Würger“). Jede Ausgabe bietet im Innenteil ein vierzehnseitiges Comic-Kapitel, während Titel- und Schlussseiten von Tardi illustrierte Nachrichten, Annoncen und Kommentare bieten, die das Krimigeschehen noch einmal erweitern. Simuliert wird dabei eine Zeitung aus dem Jahr 1959, dem Zeitpunkt der Handlung, und das, was Siniac als Gegenwartsautor damals bei seinen Lesern an Hintergrundwissen voraussetzen konnte, wird nun von Tardi und seinen Mitverfassern als Pseudodokumentation beigegeben. Das ist ein veritabler Geniestreich, und man darf gespannt sein, ob es bei der Absicht des Zeichners bleiben wird, nur der Vorzugsausgabe des im Herbst erscheinenden kompletten Comicbandes all die schönen Extras beizugeben, die nun Monat für Monat für 1,80 Euro den Raum von „L’Etrangleur“ füllen. Mit diesem Projekt erfüllte sich Tardi aber auch seinen Traum, einmal einen Zeitungscomic zu zeichnen. Zwar sind diverse seiner früheren Arbeiten in Zeitungen vorabgedruckt worden, doch wovon er immer noch träumt, ist ein Strip im Stil der alten amerikanischen Meister. Doch da er den Markt und das eigene Tempo kennt, dürfte „L’Etrangleur“ der Erfüllung seines Traums so nah kommen, wie es ihm eben möglich ist. Es gibt noch etwas Besonderes an Tardis Version von „Monsieur Cauchemar“: Er ist bereits der zweite Comiczeichner, der sich dieses Stoffes annimmt. 1987 erschien eine erste Adaption von André Benn unter dem Originaltitel des Romans, doch das ficht Tardi nicht an. Nein, erklärte er im März 2006 dem französischen Comicmagazin „BoDoï“, die Existenz dieses Vorläufers habe nichts damit zu tun, dass er Siniacs Titel in „L’Etrangleur“ geändert habe. Vielmehr habe ihn gerade gereizt, dass er sich mit seiner Geschichte in einen Wettbewerb begebe: „Wieviel Mal hat man denn Victor Hugos ‚Les Misérables’ verfilmt? Es gibt sogar eine Version mit Samurai. So etwas nennt man im Kino Remake, ein Genre, das der Comic völlig vernachlässigt. ‚De battre mon coeur s’est arrêté’ (dt. ‘Der wilde Schlag meines Herzens’), Jacques Auliards Film, der gerade erst acht Césars gewonnen hat, ist ein Remake von Fingers, einem amerikanischen Film aus dem Jahr 1978 von James Toback, mit Harvey Keitel in der Hauptrolle. Ich würde so gern ein Remake von Edgar Pierre Jacobs Comic ‚Das Geheimnis der großen Pyramide sehen’.” Allerdings wird Tardi selbst sich nicht daran versuchen.

Die Tagebücher seines Vaters
Sein neuestes Projekt ist die Illustration der Tagebücher seines Vaters. Von ihnen hatte er schon im Winter 2005 erzählt. 1940 war der Vater in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, ein Erlebnis, über das jedoch der 1946 geborene Jacques als Kind kaum etwas erfuhr. Lediglich einige Schlagworte beeindruckten ihn sehr und machten ihm Begriffe wie „Stalag” so vertraut, dass er in seiner Adaption von Léo Malets Krimi „Rue de la Gare“, der einen wichtigen Handlungsstrang in einem deutschen Kriegsgefangenenlager umfasst, eine erste familiengeschichtliche Komponente im Zweiten Weltkrieg fand, während die schon viel ältere Faszination für den Ersten Weltkrieg in der Geschichte seines Großvaters begründet lag. Mit seinem neuesten Projekt, das den noch 2005 gehegten Plan, einen weiteren Manchette-Roman zu zeichnen, derzeit abgelöst zu haben scheint, würde sich Tardi einreihen in die Reihe von Comiczeichnern, die den Erlebnissen ihrer Väter graphische Gestalt geben: Am berühmtesten ist sicher Art Spiegelmans Maus, aber auch Seths Illustrationen zu „Bannock“, „Beans and Black Tea“ wären zu nennen. Mit dem Zweiten Weltkrieg gerät dabei eine Zeit in den Blick, die mit der Ausnahme von Rue de la Gare bisher Terra incognita in Tardis gewaltigem Projekt einer Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Mit „Le Cri du peuple“ hat er die Geburtsstunde der Moderne gefunden, „Adèle Blanc-Sec“ deckt das Fin de Siècle und die unmittelbare Vorkriegszeit ab, während die Kurzgeschichten aus „C’était la guerre des tranches“ (dt. „Grabenkrieg“) den Ersten Weltkrieg selbst zum Gegenstand haben. „Le Der des ders“ (dt. „Den letzten beißen die Hunde“) widmet sich der Zwischenkriegszeit, die „Nestor Burma“-Reihe, „L’Etrongleur“ und „Jeux pour mourir“ (dt. „Tödliche Spiele“) den fünfziger und sechziger Jahren, während „Der Kakerlakenkiller“ und nun auch „Le Petit bleu de la côte ouest“ die siebziger Jahre zum Gegenstand haben und „La Débauche“ die neunziger Jahre schildert. Doch mittendrin klafft die Lücke der dreißiger und vierziger Jahre, die Zeit der Extreme, die deutschen Nationalsozialismus und französische Volksfront sah. Später kam dann das Marionettenregime von Vichy hinzu. Also denkbar brisante Jahre, gerade aus Sicht eines Franzosen.

Die Kriege der Väter
Gefragt, woraus diese auffällige Leerstelle resultiere, antwortet Tardi im Februar 2005: „Ich war als Kind besonders fasziniert von den Erzählungen meiner Großmutter über die Erlebnisse meines Großvaters im Grabenkrieg. Er selbst sprach nie darüber. Aber die Schilderungen meiner Großmutter waren so anschaulich, dass ich mir alles genau vorstellen konnte, obwohl ich erst viel später Fotos aus dieser Zeit gesehen habe. Hier wurde meine Phantasie dazu angeregt, Bilder für die elende Lage der einfachen Soldaten zu finden, nicht aber über militärische Strategie oder gar große Politik nachzudenken.” Tardis Großvater stammte aus Korsika, und das erste Mal, dass er französischen Festlandboden betrat, war im August 1914. Die Ähnlichkeit dieses Schicksals mit dem in Algerien lebenden Vater von Albert Camus, der allerdings im Krieg sterben sollte, ist verblüffend. Wie der Großvater schwieg auch der Vater über die eigenen Kriegsjahre, die er als Gefangener in Ostpommern verlebte, und die Mutter füllte diese Lücke nicht wie die Großmutter aus. Sie erlebte mit ihrem Mann das zerstörte Deutschland der Nachkriegszeit als ausreichend abenteuerlich, denn Vater Tardi war Anfang der fünfziger Jahre als französischer Offizier mit seiner Frau und dem fünfjährigen Jacques für zweieinhalb Jahre in der Nähe von Köln stationiert. Jacques Tardi erinnert sich gut an die seltsame Atmosphäre im Land eines erst vor kurzem besiegten Feindes, dem zum Ärger des Vaters von den Amerikanern wieder rasch auf die Beine geholfen wurde. Und auch wenn er keine entsprechenden Sprachkenntnisse mehr einräumen will, hat sich doch dem Zeichner ein deutsches Erlebnis besonders eingebrannt: „Wir spielten damals in den Ruinen. Einem Freund hat eine alte Granate den Arm abgerissen.” Doch die eigenen Erinnerungen will er nicht zeichnen: „Mich interessieren keine Autobiographien. Ich muss Geschichten finden, die in die Zeit passen, die mich reizt.” Derzeit scheinen das die vierziger Jahre zu sein, auch wenn Tardi noch vor anderthalb Jahren unschlüssig war, ob er sich ihnen überhaupt widmen sollte: „Mein Vater hat drei Notizbücher über seine Zeit im Stalag geführt. Es ist eine faszinierende Geschichte, weil er an genau dem Ort von den Deutschen gefangengenommen wurde, wo mein Opa im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war. Aber ich weiß noch nicht, wohin dieses Projekt mäandriert.” Nun hat es bereits zu einigen fertigen Seiten geführt, und man darf wohl für 2007 mit einer Publikation dieses Teils der Tardi’schen Familiengeschichte rechnen.

Rückkehr nach Deutschland
Vorher wird Jacques Tardi jedoch nach Deutschland zurückkehren, nach Erlangen, um dort den Preis für sein Lebenswerk entgegenzunehmen. Auch solch ein Besuch wäre vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen. Tardi wurde nachgesagt, nicht mit Deutschen reden zu wollen, doch seine Verweigerung war rein professionell. Im Schutzraum seines Ateliers hatte er eben eine Welt, deren Abschottung ihm die konzentrierte Arbeit an all den Zyklen und Adaptionen gestattete, die ihn zu jener Berühmtheit gemacht haben, die er heute darstellt. Und wenn nicht alles täuscht, dann steht Tardi tatsächlich vor einer Zäsur, die vor allem in der neuen Offenheit offenbar wird: Er genießt mit einem Mal seine Stellung als Großmeister des europäischen Comics, der auch von der selbstbewussten neuen Generation frankobelgischer Zeichner als absolute Instanz anerkannt wird. Darin hat er wohl nur in Moebius seinesgleichen, und nachdem Jean Giraud den Max und Moritz-Preis für sein Lebenswerk bereits erhalten hat, war die Auszeichnung für Tardi in der Tat überfällig. Und die Früchte des Zorns dieses Künstlers werden dadurch versüßt, dass plötzlich ein ganz neuer Humor in seine Comics einzieht. Wie etwa in „L’Etrangleur“, wo plötzlich ein gewisser „Tardi” erwähnt wird, der als Zeichner vorgestellt wird. Wer weiß – vielleicht findet Jacques Tardi ja nicht nur zur Selbstironie, sondern doch auch noch zur Autobiographie?
Andreas Platthaus



 
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