Lorenzo Mattotti – Feuer, Farben, Träume
Bildpoet aus Brescia

27. Mai bis 25. Juni 2006

Öffnungszeiten 15. bis 18. Juni:
Do 10–19, Fr 10–21 Uhr
Öffnungszeiten 15. bis 18. Juni:
Do 10–19, Fr 10–21, Sa 10–19 Uhr, So 10–18 Uhr
sonstige Öffnungszeiten:
Di–Fr 10–18, Sa/So 10–17 Uhr

Führungen durch die Ausstellung 15. bis 18. Juni:
täglich, 15 Uhr

Special mit Lorenzo Mattotti – Gespräch mit Herbert Heinzelmann und Signierstunde:
Freitag, 16. Juni, 19.30 Uhr
Städtische Galerie Erlangen

Die Kunst der Moderne setzt ein mit der Bewegung, dem Licht und – das wird oft vergessen – dem Zeichen. Die abgebildeten Dinge verwiesen nicht mehr auf die Dinge außerhalb des Bildes – das geschah jetzt auf der Fotografie. Auf der Leinwand begannen sie zu bedeuten und gaben einer Kunstepoche den Namen: Symbolismus. Für die Auseinandersetzung der Kunst mit Licht und Bewegung stehen exemplarisch Werke wie William Turners „Regen, Dampf und Geschwindigkeit“ (1844) oder Claude Monets „Der Bahnhof von Saint Lazare“ (1877). Beides sind Bilder der Eisenbahn, die als erstes technisches Fortbewegungsmittel das Zeitalter der Beschleunigung einleitete. Der Film wurde das ihr angemessene Beobachtungsmedium. Kubismus und Expressionismus griffen das Thema auf, denn der Kubismus versuchte die Plastizität der Dinge aus der dreidimensionalen Kamerafahrt in die Fläche zu übertragen. Und der Expressionismus übernahm den Ausdruck filmischer Großaufnahmen von Mimik ins Tafelbild. Die Futuristen Italiens erklärten dann explizit das Tempo zum Stoff ihrer Arbeit. Bis die Künstler der Moderne schließlich Traditionen übernahmen, die seit Urzeiten die Multiperspektivität einer bewegten Weltsicht und die Zeichenhaftigkeit des Kunstwerks formten. Sie lernten von den Bildern, Statuen und Masken der so genannten Primitiven. Kultur und Kultus und damit Heiligkeit von Völkern außerhalb abendländischer Denkmuster wurden zu entscheidenden Inspirationsquellen der Kunstmoderne.
In Lorenzo Mattottis gemalter Short Story „Briefe aus ferner Zeit“ rast ein Zug als rote Linie, als schlanke, lang gezogene Farbfläche durch die Panels. Seine Konturen verschwimmen in der Geschwindigkeit, die das Auge nicht mehr als festen Umriss wahrnehmen kann. In ebensolch impressionistischer Unschärfe verflimmern Figuren und Landschaften in dem Album „Flüster“. Vor allem in dem Bild-Roman „Der Klang des Rauhreifs“ verschieben sich die Farben der Landschaften in Expression und Symbolismus. Blaue Farbschlieren, tiefe Schwarzpfützen, wie sie einst Emil Nolde oder Edvard Munch in ihre Gemälde integrierten, strukturieren Mattottis Extraktionen psychischer Geografie. Das Eröffnungsbild der Kurzgeschichte „Der Ingenieur Dortles“ ist eine Reflexion über das Spiel des Lichtes in eisigen Klippen. In dem frühen Roman „Feuer“ erstarrt das Licht in den roten Flammenzacken von Bränden oder Kanonenschüssen. Solche Kriegs- und Seelenflammen lassen Menschen nicht heil. Die zerstörten Körper und Gesichter, wie sie Otto Dix und George Grosz nach dem Ersten Weltkrieg für die Malerei entdeckten, zitiert Mattotti in seiner Variation von Stevensons Geschichte über „Doktor Jekyll & Mister Hyde“. In diesem Band zeigt er auch einen Liebesakt, der in Zerfleischung umschlägt. Die Gesichter der Protagonisten mutieren immer wieder zu Masken wie aus fremden Kulturen – ein magischer Kunstakt, wie ihn Mattotti in fast jeder seiner grafischen Novellen vorführt. Schon in „Feuer“ räkeln sich die Fetische des Primitivismus vor glühenden Farbflächen und der Zeichen-Code der Ritualsprache dominiert ganze Seiten.
Das Pariser Atelier von Lorenzo Mattotti soll angefüllt sein mit Kunstbüchern und Katalogen. Doch er sagt, die Comic-Bibliothek sei in einem anderen Raum. So sehr seine Panels die Kunstgeschichte der Moderne referieren und sie umwandeln in einen Zeichenstil von ganz eigener Hand, so wenig will Mattotti seine Arbeit von den Bildern distanzieren, die Geschichten erzählen. Ja mehr noch, er nennt die Comics seinen „amour fou“, seinen Liebeswahn. „Wenn ich keine Comics zeichne, geht’s mir schlecht.“ Dabei kann er gut leben von Buchillustrationen, von Gebrauchsgrafik, zunehmend auch von seiner Malerei. Aber er fühlt sich noch nicht sicher vor dem Einzelbild, das alles, was es aussagt, in sich vereinigt. Er hat seine Kunst gelernt von Bildern im Fluss, von Bildern, die sich jeweils auf das vorhergehende beziehen und auf das folgende verweisen: von den Panels der Comic Strips oder der Fumetti, wie die Gattung in Italien heißt. Er hat sie gelesen, wie die meisten europäischen Nachkriegskinder (Mattotti wurde 1954 in Brescia geboren). Er hat sie kopiert, denn das Malen, das Zeichnen war sein Hobby seit dem zehnten Lebensjahr; im Kopieren der Comics fielen Leselust und Mallust zusammen. Schließlich hat er angefangen, kreativ mit dem Medium umzugehen und eigene Comics zu entwickeln. In der Mitte der 1970er Jahre hat er sie in den Zeitschriften „Re Nudo“ und „La Bancarella“ veröffentlicht. Zu dieser Zeit studierte er Architektur in Venedig.
Zunächst hat Lorenzo Mattotti Comics für den breiten Markt gezeichnet, darunter eine Adaption der Abenteuer von Huckleberry Finn. Für viele Szenarios hat er schon mit Kramsky zusammen gearbeitet, einem Künstler, der ausgesprochen wichtig für Mattotti ist, wie er selbst sagt. Kramsky heißt eigentlich Fabrizio Ostani und hat Mattotti in Como in der Schule kennen gelernt. Sie haben sich die Arbeit geteilt: Kramsky zeichnete die Figuren, Mattotti die Hintergründe ihrer Geschichten. Später ist Kramsky Mattottis bevorzugter Texter geworden, auch wenn sie die Geschichten immer gemeinsam entwickelt haben. Aus dieser Zusammenarbeit resultiert der eigentümliche Tonfall von Mattottis Comics: dieses unmittelbare Hineinspringen der Sprache in Handlungen und Charaktere, diese Nähe und Intimität zu den Figuren, in die der Leser sofort eingebunden wird. Spätere Szenaristen wie Lilia Ambrosi, Jorge Zentner oder Claudio Piersanti haben den Tonfall beibehalten und modifiziert. Die Unmittelbarkeit des Lektüreerlebnisses ist daher ein Charakteristikum der Begegnung mit Mattottis Werk. Fast immer wird der Eindruck erzeugt, in einem geheimen Tagebuch zu blättern.
Kramsky gehörte auch der „Gruppo Valvoline“ an, die Lorenzo Mattotti zu Beginn der 1980er Jahre inspirierte und die für die avantgardistische Entwicklung der Comics in Italien und Europa maßgeblich werden sollte. Ein weiteres prominentes Mitglied der Gruppe war Igor Tuveri, besser bekannt als Igort; ihm war auf dem 11. Erlanger Comic-Salon eine Ausstellung gewidmet. Die Gruppe junger Zeichner, benannt nach einem Hochleistungsöl, öffnete die Fumetti in Richtung auf andere Künste und setzte in Italien die ästhetische Revolution in den Comics fort, die vom amerikanischen Underground und von der französischen Zeitschrift „Metal Hurlant“, und zuvor schon von lateinamerikanischen Künstlern wie Alberto Breccia und Jose Muñoz (beide explizite Vorbilder für Mattotti) ausgelöst worden war und die das Medium der Bildergeschichten endgültig in die Zone literarischer und künstlerischer „Hochkultur“ erhob. Wesentliche Einflussquellen der Revolution waren Popmusik und Kino. Inzwischen muss Lorenzo Mattotti allerdings konstatieren, dass die Revolution einerseits in den Sphären der Kunstkritik immer noch nicht angekommen ist, andererseits auch quer steht zum Massenmarkt der Unterhaltungscomics: „Als Comic-Autor scheine ich weder auf dem Comic-Markt noch in der Kulturszene zu existieren. Man ignoriert uns. Wir machen ja keine Kunst, wir machen nur Comics.“
Dabei hat Lorenzo Mattotti bereits mit dem ersten Album, das er ganz allein verantwortete, Kunst gemacht. Es ist der Band „Feuer“ aus dem Jahr 1986, die Geschichte der Initiation eines Marineoffiziers in die Wildnis, der Begegnung der Zivilisation mit dem Elementaren. Die Handlung, der Inhalt, schlägt hier absolut in Form um – nach Hegel eine wesentliche Voraussetzung für die Kunstdefinition. In „Feuer“ handeln Farben und Formen, hier erzählen Flächen und Fratzen. Ein Panzerkreuzer erscheint ganz als kubisches Gebilde. Picassische Kriegsallegorien entfalten sich vor glühenden Horizonten. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte die Bewegung der „Neuen Wilden“ mit ihrem ungezügelten Neo-Expressionismus die Kunstszene aufgerüttelt. In Italien gehörten Francesco Clemente, Enzo Cucchi oder Sandro Chia dazu. Hätte Lorenzo Mattotti die Panels von „Feuer“ als wanddeckende Einzelbilder gestaltet, wäre er von der Kunstkritik uneingeschränkt der wilden Bewegung zugeschlagen worden.
Protagonist von „Feuer“ ist der Leutnant Absinth, der zum Bruder des Feuers wird und damit zum Feind der militarisierten Zivilisation und zum Einzelgänger auf dem Panzerkreuzer. Damit schlägt Mattotti das Thema an, das ihn nicht mehr loslassen wird. Da er als Künstler auf der Narration der Bilder beharrt, sind seine Werke schwer zu trennen von den Geschichten, von den Handlungen. Es sei denn, man betrachtet die Einzelblätter, die er durchaus auch schafft. Oder man studiert an seinen Modezeichnungen für die Zeitschrift „Vanity“, wie man so ein zeitgebundenes und anbiederungsträchtiges Phänomen wie die Mode in einen eigenen Stil einverleiben und in die Ironie distanzieren kann. Die Einzelblätter verwerten alle Stilformen und Techniken, die sich Mattotti für die Comics angeeignet hat. Stärker als die sequentiellen Bilder scheinen sie jedoch von der Pittura Metafisica Giorgio de Chiricos oder von den magischen Momenten im Realismus Edward Hoppers beeinflusst zu sein. Und manche Figuration, manches Seestück oder Wolkenbild, scheint zur Fortsetzung in eine Geschichte zu drängen.
Lorenzo Mattotti will das alles erzählen: den Wind, die Wolken, den Sand in seiner Kommunikation mit dem Meer, die Flamme, die Stille, durchaus auch den Schrecken, die Angst, die Leidenschaft und vor allem die Sehnsucht. Er will diese Erscheinungen, oft ja Abstraktionen, erzählen mit Wachskreide, mit Buntstift. Diese Technik entrückt sie ins Vage, Ungefesselte, nimmt ihnen die Gewissheit ästhetischer Behauptung, die ungemischte Farbflächen in „Feuer“ durchaus noch hatten. Aber auf solche Farbigkeit lässt Mattotti sich nicht festlegen, obwohl er als Comic-Künstler vor allem deretwegen erkennbar ist. Gleich nach der Farbexplosion von „Feuer“ hat Mattotti mit „Der Mann am Fenster“ (nach einem Szenario seiner Ex-Frau Lilia Ambrosi) ein ganz anderes Buch vorgelegt. Es ist reine Grafik, strahlt in der Farbe Weiß. Darüber sind Netze aus Tusche gesponnen, Figurationen in zurückhaltender Andeutung und durchscheinender Abstraktion. Diesen zeichnerischen Gestus hat Mattotti später in „Stigmata“ wieder aufgenommen, hat jetzt die schwarzen Linien aber geballt, verdichtet, hat damit gröbere Körper erzeugt, Licht ausgeschlossen, die Szene verdüstert. In „Der Mann am Fenster“ hat er von der Einsamkeit eines Bildhauers gehandelt, von seinen flüchtigen Begegnungen. Eine dieser Begegnungen mündet in eine Liebesumarmung, in die Mattotti auf faszinierende Weise alle glücklichen Entstellungen und schmerzlichen Verzerrungen körperlicher Lust eingeschrieben hat. Das Buch endet mit der Selbstfindung des Künstlers. „Stigmata“ (nach einer Vorlage von Claudio Piersanti) hat dagegen einen asozialen Säufer zum Helden, an dessen Handflächen plötzlich Wundmale erscheinen, der sakrale Heilkraft entfaltet, der seine Gaben aber nicht akzeptieren kann – eine viel dunklere Geschichte.
„Wenn du deine eigenen Stigmata, deine metaphorischen Wundmale zu erkennen beginnst, musst du deine soziale Gruppe verlassen und dich auf deine eigene Reise machen. Das kann schwierig und hart sein. Aber gleichzeitig ist die Erforschung der unbekannten Abgründe in uns selber, das Berühren und Verstehen dieser Seiten sehr faszinierend“, hat Lorenzo Mattotti gesagt. Das ist sein großes Thema: der Gang an den Abgrund der Seele, der stets vereinsamen lässt. Die Konfrontation mit den metaphorischen, metaphysischen und mythischen Wesen in diesem Abgrund, mitten in uns. Und die daraus entstehende Sehnsucht, diese Konfrontation sozial zu bewältigen, sei es in der Liebe, sei es in der Kunst. Die Kunst Lorenzo Mattottis und seine Liebe zu den Ideen, denen er durch die Kunst Form gibt, ist eine erstaunliche Singularität in der Geschichte der Comic-Literatur.
Herbert Heinzelmann

Eine Ausstellung der Städtischen Galerie Erlangen in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Comic-Salon Erlangen und dem bd Boum – Festival de la Bande Dessinée, Blois/Frankreich.

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