Kleiner als das Leben – Größer als die Realität.
Neue deutschsprachige Comicerzähler
Arne Bellstorf, diceindustries, Oliver Grajewski, Sascha Hommer, Line Hoven, Ulli Lust, Mawil, Kai Pfeiffer, Kati Rickenbach, Dirk Schwieger und Fabian Stoltz

15. bis 18. Juni 2006

Öffnungszeiten: Do 12–19, Fr/Sa 10–19, So 10–18 Uhr
Großer Saal
Kongresszentrum Heinrich-Lades-Halle

Es gibt durchaus einige nicht ganz unbedeutende Bilderzähler in der deutschen Vergangenheit – Wilhelm Busch, die Zeichner des „Simplicissimus“, Lyonel Feininger … Und dann war das erst mal vorbei – wegen des Nationalsozialismus, sagt man. Aber das war nur einer von etlichen Gründen, der schwerwiegendste wohl der, dass der deutsche Denker ein Bild gerne betrachtet, sich von ihm aber lieber nichts sagen lassen will. Gelesen werden in Deutschland nur Texte. Schlecht für die Bilderzähler.
Alle die anfangs genannten Zeichner waren komisch. Und wenn ein Comic in Deutschland heute Erfolg haben will, dann sollte er zunächst einmal komisch sein. Was soll man halten von einem Comic, der nicht lustig ist? „Asterix“ ist lustig. „Werner“ oder die Cartoonisten und Karikaturisten der Neuen Frankfurter Schule, der Satiremagazine Pardon und Titanic waren und sind lustig. Ralf König ist lustig.
Nun gibt es seit einigen Jahren auch in Deutschland eine „Gegenbewegung“, die den Comic als ernstzunehmendes Medium begreift, das in seiner Umsetzung und Wirkung nicht bedingungslos den rigiden Vorgaben der Witzigkeit folgt. Diese „Avantgarde“ des deutschen Experimentalcomics hat sich allerdings lange genug vorrangig an ästhetischen Fragen orientiert. Damit zusammen hängt nicht zuletzt die Ausbildung fast aller unserer Zeichner durch die naturgemäß dem Bild verpflichteten Kunsthochschulen. Dabei ist der Textanteil des Comics von gleichrangiger Bedeutung. Und wichtiger noch als die Qualitäten des Bildes und der Sprache jeweils für sich betrachtet, ist der erzählerische Tonfall, die Gesamtsprache des Comics, die sich aus beiden ergibt, und ihre dramaturgische Fügung zu einer Erzählung. Diese wesentlichen Aspekte in Kombination werden in Deutschland bislang nirgends gelehrt.
Um uns häufen sich tolle Illustrationen, die aber leider nur selten Teil einer lesenswerten Geschichte sind. Womit wir wieder bei Ralf König wären, dem immer noch wichtigsten zeitgenössischen Comiczeichner deutscher Sprache, nicht zuletzt da es ihm gelungen ist, durch und durch schwule Geschichten einfach allen zu erzählen. Denn, zunächst einmal glänzend unterhaltend, gelingt es ihm gleichzeitig zu interessieren. Und damit sind wir endlich bei dieser Ausstellung: Vorgestellt wird hier eine „Generation“ von Comicerzählern, die an Lebensjahren und Erfahrung durchaus nicht alle gleichauf sind, die aber alle eint, den Comic als Erzählsprache mit einer Selbstverständlichkeit zu begreifen, die in Deutschland vielleicht jetzt erst entstehen konnte. Vieles, was vorher in verschiedene „Schulen“ des Comics unterteilt war, die zum Teil Glaubensbekenntnissen glichen, und stark über Ablehnung definiert waren, geht diese Zeichner nichts mehr an.
Eine Autorenausstellung – kuratiert von dem Comicerzähler Kai Pfeiffer und dem Verleger Johann Ulrich – die einer Lesung an Wänden gleicht, mit Originalzeichnungen und Projektionen – die ästhetischen Anteile werden keineswegs geleugnet – und Tischen mit Büchern – die eigentlichen Originale: fiktive Romanzen, Allegorisches, vor allem aber viel (Auto-) Biographisches und Comicreportagen zur Zeitgeschichte. Die bedeutsame Frage ist nicht, ob diese Comics nun scheinbar naiv gekritzelt, oder mit kalter Perfektion ausgeführt werden, sondern die Sicht und Erfahrung der Welt, die sie vermitteln. Und die Geschichten sind nicht speziell für Comicfans, sondern für ein Publikum, das zum Teil noch gar nicht weiß, dass es sich dafür interessieren wird. Aber das lässt sich ändern.
Kai Pfeiffer

Arne Bellstorf (de)
Geboren 1979, lebt und arbeitet in Hamburg. Im Eigenverlag erschien im September 2003 mit „The Scorpions" sein erstes Heft, in dem er mit „Backstage Queen", „Rock you like a Hurricane" und „Winds of Change" drei Songs der Scorpions auf recht eigenwillige Weise interpretiert hat. Mit „Acht, neun, zehn" veröffentlicht er 2005 sein erstes Comic-Album bei Reprodukt, gleichzeitig bestreitet er damit seine Diplomarbeit am Fachbereich Gestaltung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Nicht selten werfen seine Geschichten einen wehmütigen Blick zurück auf Kindheit und Jugend. Seine Zeichnungen sind an der klaren Linie Hergés oder Chris Wares geschult und konzentrieren sich auf das Wesentliche. In seinem aktuellen Titel bei Reprodukt, „Acht, neun, zehn", stellt er die schwierige Beziehung zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn in den Mittelpunkt seiner Geschichte.
www.bellstorf.com

diceindustries (de)
Lebt und arbeitet in Hamburg und ist nicht nur frei schaffender Grafiker, sondern auch Comic-Zeichner. In seiner Reihe „qwert“ produziert er seit 1994 sporadische Veröffentlichungen, die in geringer Stückzahl unters Publikum gebracht werden. Das neueste „qwert“ mit dem Titel „Wien, ein Mensch stirbt", entstand anlässlich eines Aufenthalts in Wien, der von einer Ausstellung im Kabinett für Wort und Bild begleitet wurde. Als Mitglied der Hamburger Inc. (Interessengemeinschaft Comics) ist dice industries bereits seit vielen Jahren als Comic-Zeichner aktiv und war auf Ausstellungen wie Comopoly, Am Anfang war der Strich oder Ehrlich billig vertreten. Kurzgeschichten von dice sind in Caisers sehr feine Comics, Moga Mobo, Panel oder auch im Strapazin veröffentlicht worden. Bei Reprodukt ist der Band „Rimini Redux" erschienen.

Oliver Grajewski (de)
Geboren 1968. Er absolvierte ein Meisterschülerstudium an der Hochschule der Bildenden Künste zu Berlin, in der Klasse von Dieter Appelt. Er arbeitet als Comiczeichner, Illustrator und Bildender Künstler, vertreten durch die Galerie Röhr Jenschke, für Print- und Onlinemedien, Film und Galerie. Die Ausgaben 16 bis 19 seines Magazins „Tigerboy“ sind im Verbrecher Verlag erschienen. Diverse Ausstellungen im In- und Ausland, nicht zuletzt in Tokyo, wo er nach mehreren Aufenthalten, die insbesondere in „Tigerboy" Nr. 18 in Comicform verarbeitet wurden, demnächst für ein gemeinsames Tokyo-Buch mit der Autorin Kathrin Röggla recherchieren wird. Arbeitet derzeit an einem 200-seitigen „Tigerboy"-Buch. E-Comic-Fassungen verschiedener, meist autobiographischer Comicerzählungen aus „Tigerboy" erscheinen beim Internet-Comicverlag electrocomics.com. www.skalien.de
www.electrocomics.com
www.roehrundripken.de

Sascha Hommer (de)
Geboren 1979, hat unter dem Pseudonym Pascal D. Bohr Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht, unter anderem in Panik Elektro und Orang. Schon in seinen Arbeiten für das von ihm herausgegebene Magazin Orang beschäftigt er sich mit den in „Insekt" vorgestellten Figuren in Hinblick auf Ausgrenzung und Gewalt unter Jugendlichen. Im März 2006 ist Strapazin 82 zum Thema Comics aus Hamburg erschienen, für das Sascha Hommer als Herausgeber verantwortlich zeichnet, und in dem u. a. Beiträge von Arne Bellstorf, dice industries, Line Hoven, Calle Claus, Till Thomas, Anke Feuchtenberger, Stefano Ricci oder Martin tom Dieck abgedruckt werden. Das Titelbild wurde von Sascha Hommer gestaltet. Sascha Hommer lebt und arbeitet in Hamburg und ist – gemeinsam mit Arne Bellstorf – Betreiber des Verlags Kiki Post. „Insekt" ist seine erste Buchveröffentlichung bei Reprodukt.

Line Hoven (de)
Geboren in Bonn. Nachdem sie einige Zeit als Kostüm- und Bühnenbildnerin am Kasseler Staatstheater gearbeitet hatte, wollte sie etwas Neues probieren und begann ein Studium der Visuellen Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel. Zwei Jahre darauf wechselte sie zur Hochschule der Angewandten Wissenschaften in Hamburg, wo sie u. a. bei Anke Feuchtenberger und ATAK Illustration studiert hat. Heute arbeitet Line Hoven als freie Illustratorin in Hamburg. Ihre aus Schabkarton gekratzten Comics sind unter anderem in Orang und Strapazin erschienen.

Ulli Lust (at)
Geboren 1967 in Wien. Meisterschülerstudium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Die Werke der aus Österreich stammende, seit einigen Jahren in Berlin tätige Zeichnerin Ulli Lust sind in zwei wichtige Hauptgebiete geteilt: Zum einen Comicreportagen, die auf streng journalistischer Recherche gründen sowie historische Stoffe, beispielsweise ein Buch zur Sozial- und Kulturgeschichte Berlins anhand der Geschichte des Friedrichstadtpalast. Ein anderes Gebiet sind ihre erotisch-mythologischen Erzählungen der Reihe „springpoems“, die als Fruchtbarkeitsritual in Comicform zu verstehen sind und auf einem prähistorischen Mythos basieren. Sie hat gemeinsam mit Kai Pfeiffer die Comicreportagenprojekte der Zeichnergruppe monogatari iniziiert und war ebenfalls an der Ausstellung „Tauchfahrten“ beteiligt. Sie gibt regelmäßig Comicworkshops im In- und Ausland mit den Schwerpunkten journalistisches Zeichnen und dramaturgische Analyse. Ihre Comicreportage über die Luzerner Totenbrücke wurde im Juni 2005 von Le Monde diplomatique veröffentlicht. Derzeit arbeitet sie vorrangig an einem umfangreichen autobiographischen Comic über ihre Jugendzeit, in dem sich Reise- und Schelmenroman mit einem existentiellen Teenagerdrama verbinden. Im Juni 2005 startete sie ihren online-Verlag electrocomics.com, der E-Books und Comicstrips einer wachsenden Riege internationaler Comiczeichner und Bilderzähler publiziert.
www.ullilust.de
www.electrocomics.com

Mawil (de)
Markus „Mawil" Witzel wurde 1976 geboren, lebt in Berlin und teilt seit ein paar Jahren ein Atelier mit Andreas Michalke, Reinhard Kleist und Fil. Ausführliche Kommentare und Bildbeispiele seines Schaffens zeigt er auf seiner Homepage. Mawil hat unter anderem in Epidermophytie, Geschichten aus dem Comicgarten, Teufel & Pistolen oder Strapazin veröffentlicht. Der studierte Künstler ist zudem Mitglied bei Monogatari, einer Gruppe Berliner Comiczeichner, die durch vielfältige Veröffentlichungen, Ausstellungen und sonstige Aktivitäten von sich Reden machen. Bei Reprodukt sind 2003 „Wir können ja Freunde bleiben", 2004 „Die Band" und 2005 „Das große Supahasi-Album" erschienen. 2006 erscheint passend zum Comic-Salon in Erlangen sein neues „Meister Lampe"-Taschenbuch. Die Strips, die gesammelt im Album erscheinen, wurden in der „Welt Kompakt“ abgedruckt. Mawil erzählt Geschichten übers Erwachsenwerden, über Musik und über Mädchen. Sein lockerer Zeichenstil unterstützt seine humorvollen und leicht melancholischen Geschichten dabei nahezu perfekt.
www.mawil.net

Kai Pfeiffer (de)
Geboren 1975 in Berlin. Meisterschülerstudium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Bilderzähler, Zeichner, Autor und Musiker (Egobone, Hyperbolick Soul Cantors). Hat zuletzt die beiden Bände „LAND.” und „stadtelphen” publiziert. Beim Online-Verlag electrocomics.com veröffentlicht er E-Books und Stripserien. Sein erstes Buch erschien 2000 in Frankreich bei Le Dernier Cri, es folgten Comicstrip-Serien für den „Tagesspiegel” und die „FAZ” (mit Tim Dinter). Mit Ulli Lust und der Zeichnergruppe monogatari widmete er sich der Comicreportage (u. a. „Alltagsspionage – Comicreportagen aus Berlin”, 2001), dazu auch Essays in Zeitschriften und Vorträgen an Kunsthochschulen und dem Comicfestival Helsinki 2001. Leitete mehrere Workshops und Seminare, u. a. an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. 2004 „artist in residence“ des Museumsquartiers Wien. Dort entstand eine Arbeit über Wien in Form einer digitalen Projektion mit Tonspur für die Ausstellung „Tauchfahrten – Zeichnung als Reportage” (Kunstverein Hannover 2004 und Kunsthalle Düsseldorf 2005), die er als Comicspezialist mitbetreute. 2005 Leitung eines Comicreportagen-Projekts über Halle-Neustadt im Auftrag des Bauhaus Dessau gemeinsam mit Ulli Lust. Arbeitet derzeit an einem umfangreichen Dokumentarcomic zu einem energie- und umweltpolitischen Thema, sowie (semi)fiktionalen Comicromanen. Ausstellungsbeteiligungen u. a. in Berlin, Basel, Luzern, Helsinki, Lissabon, Los Angeles, Stralsund, Wien, Ljubljana. Herausgeber der Magazine „Flitter" und „Plaque" (mit Johann Ulrich) im avant-verlag.
www.kaipfeiffer.info
www.kaipfeiffer.livejournal.com
www.electrocomics.com

Kati Rickenbach (ch)
1980 in Basel geboren und dort aufgewachsen. Später die Illustrationsfachklasse in Luzern besucht, Sommer 2005 abgeschlossen. Lebt in Zürich und zeichnet dort im Strapazin-Atelier. Im Herbst 2006 erscheint ihr erstes Buch „Filmriss” bei Edition Moderne.
www.strapazin.ch/kati
www.electrocomics.com

Dirk Schwieger (de)
Geboren 1978 in Frankfurt am Main. Studierte an der Universität der Künste in Berlin 2000-2005 bei Georg Baselitz und Daniel Richter. Gründete 2000 sein Verlag „der eigen verlag“ und begann dort seinen 13-teiligen Comicroman „Ineinander" zu publizieren (bislang erschienen fünf Hefte). Verbrachte 2002–2003 ein Jahr auf Island, studierte dort Kunst (Lístaháskola Íslands in Reykjavík) und recherchierte für eine Comicreportage über die isländischen Elfen, die in einer ersten Kurzfassung im Magazin „Flitter" Nr. 1 erscheint, sowie als e-comic-Fassung bei electrocomics.com. Lebt und arbeitet seit Herbst 2005 in Tokyo und zeichnet für seinen Weblog (www.tokyoblog.livejournal.com) eine wöchentliche Mini-Comicreportage über das Leben in Japan, wobei er Themen auf Zuruf der Leser recherchiert. Veröffentlichungen in diversen deutschen Comicmagazinen wie „Renate", „Moga Mobo", „Tentakel", „Panik Elektro", „Canicule" und „Flitter".
www.tokyoblog.livejournal.com
www.eigen-heim.com
www.electrocomics.com

Fabian Stoltz / FAB (de)
Alias fab. Geboren 1972. Aufgewachsen, gezeichnet und Schulabschluss. Erste Veröffentlichungen in Schülerzeitung. Studium, erst Grafik Design, dann Illustration, erst Augsburg, dann über Paris nach Hamburg. Zweite Veröffentlichungen in Kromix und Comicstrich. Seit 2001 eigene Heftserie: Geschichten aus den Neunzigern, bisher 3 Bände (Schwarzer Turm). Dritte Veröffentlichungen in tba, Orang, Panik Elektro, Canicule. Außerdem Mitherausgeber von Canicule und Panem et Circenses, ein zweisprachiges deutsch-französisches Projekt. Diplom 2004. Ausstellungen in Hamburg, Berlin, Neapel. Lebt in Künstlersymbiose mit Freundin in Hamburg. Legt gerne Platten auf.
www.artige-bilder.com
www.schwarzerturm.de

Eine Ausstellung des Internationalen Comic-Salons Erlangen in Kooperation mit Comicon Neapel.
Kuratoren: Kai Pfeiffer, Johann Ulrich
Zur Ausstellung erscheint als Begleitpublikation das Magazin „flitter 01“ im avant-verlag.

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